Tuesday, October 6, 2015

Krokodil



Ilja

Ein feiner Kratzer zieht sich über meinen Unterarm. Er ist knapp sechs Zentimeter lang, und wenn man ganz genau hinsieht, erkennt man winzige Schorfpunkte darauf. Das war die Katze Tamara. Ich nenne sie Katze, weil es zu ihr passt. Ich bin das Krokodil. Niemand nennt mich so, aber ich finde, dass ich ein Krokodil bin.
Mir die Menschen als Tiere vorzustellen, hilft mir dabei, mit ihnen umzugehen. Ich muss mir nicht einmal Mühe dabei geben, sie einem Tier zuzuordnen. Das passiert ganz von allein.
Tamara ist eine Katze, weil sie schnurrt und miaut wenn sie spricht, und sich geschmeidig bewegt.
Ich bin ein Krokodil, weil ich unauffällig bin. Meistens treibe ich und beobachte nur. Aber wenn ich ein Ziel habe, bin ich schnell und konsequent dabei, es zu erreichen. Viele Ziele habe ich allerdings bisher noch nicht gehabt.
Tamara ist seit der Grundschule meine Freundin gewesen, oder sowas ähnliches. Wir sind jetzt immer noch in derselben Klasse, aber beschäftigen uns in der Schule eigentlich nicht miteinander. Wir fahren nur zusammen hin und zurück und machen manchmal zusammen Hausaufgaben. Unsere Mütter sind besser befreundet als wir.
Sie hat ihre Leute und ich habe meine. Es liegt wohl daran, dass wir nicht die gleichen Interessen haben. Außerdem mag sie mich wohl nicht so besonders. Sie macht sich über mich lustig und zieht in der Schule über mich her.
Bei der letzten Fahrt im Bus von der Schule nach Hause hat sie so getan, als wollte sie mich anbaggern oder so, und hat sich einfach meinen Arm gegriffen. Als ich ihn wegziehen wollte, hat sie sich daran festgekrallt und mich gekratzt.
„Die steht auf dich,“ behauptet Mirko mit hochgezogenen Augenbrauen. Er ist mein bester Kumpel, obwohl wir auch nicht viel gemeinsam haben. Ich mag ihn eben einfach.
Wir sitzen vor der Schule auf einer Banklehne und warten auf die anderen. Ich habe ihm gerade die Geschichte des Kratzers erzählt.
Quatsch. Die will mich nur ärgern.“ Ich grinse. Mirko wirkt sehr ernst.
Sie ärgert dich dauernd. Das ist doch offensichtlich. Dass sie auf dich steht.“
Tse.“

Den ganzen Tag bleibt Mirko ernst und redet nicht viel. Beim Sport in den letzten beiden Stunden wird er dann sogar sauer, weil ich mich etwas rücksichtslos gebe.
Hallo?! Das ist Badminton, kein Krieg!“ Er sammelt den Ball zum x-ten Mal auf und kommt nach vorne zum Netz. Es sind heute nicht so viele Leute hier, weil die siebte und achte Stunde natürlich nicht so populär sind. Wir sind nur zu zwölft und haben zwei Sporthallen zur Verfügung. Vier Paare spielen hier in der großen Halle, und zwei in der kleineren. Auf dem Feld hinter mir spielen Tamara und Pinar.
Weil wir so wenige sind, ist es relativ ruhig. Mirko winkt mich mit einem genervten Blick zu sich ans Netz.
Tamara kann dich sowieso nicht sehen, sie steht mit dem Rücken zu dir. Du brauchst dich also gar nicht so zu verausgaben.“
Ich brauche ein paar Sekunden, bis ich darauf antworten kann. Die Bemerkung macht mich nämlich irgendwie verlegen. Dabei habe ich gar nicht an Tamara gedacht. Sport macht mir einfach Spaß, und das weiß er.
Äh. Unfug. Ich verausgabe mich nicht. Du kannst nur nicht spielen.“ Das war scherzhaft gemeint, obwohl es die Wahrheit ist. Heute spielt er wirklich noch viel schlechter als sonst. Aber er rollt nur mit den Augen.
Das weiß ich selbst. Könntest du wohl trotzdem so spielen, dass ich den Ball mal kriege?“ Er klingt sehr angepisst, als er das sagt, und geht an seinen Platz zurück. Vor seinem Aufschlag wirft er mir noch einen Na-was-ist-Blick zu. Ich nicke und spiele etwas sozialer.

Hast du Bock, noch irgendwas zu machen? Oder musst du dringend nach Hause?“
Ich wäre liebend gern zum Duschen und Essen nach Hause gefahren, aber ich habe das dumpfe Gefühl, dass Mirko irgendein ernsteres Problem hat. Er macht so einen besorgten Eindruck. Und er sieht ziemlich viel auf den Boden.
Klar, wenn ich vorher duschen darf.“
Dann sieh zu, dass du deinen Bus kriegst.“ Er zeigt zur Haltestelle, an der Tamara steht. Wir sehen beide kurz hin, als sie sich eine Kippe anzündet.
Kann ich nicht bei dir duschen? Das ginge schneller.“
Irgendwas passiert mit seinem Gesicht.
Um. Also wenn das nicht geht-“
Doch, klar!“
Du machst aber ein sehr geschocktes Gesicht.“
Hehe.“ Jetzt serviert er mir ein falsches Grinsen, das ich ihm nicht abkaufe.

Mirkos Mutter ist 100%-Hausfrau. Darum gibt es immer genau dann Mittagessen, wenn er aus der Schule kommt. Außerdem kocht sie fast nur asiatische Sachen, weil sie aus Thailand kommt. Sie mag mich anscheinend und hat kein Problem damit, dass Mirko mich mitgebracht hat, ohne zu fragen. Mirko darf irgendwie viel. Er hat auch einen eigenen Fernseher mit Flachbildschirm, eine PS2 und eine Wii-Konsole. Damit beschäftigen wir uns meistens, wenn wir bei ihm sind. Bei mir gibt es nur den PC. Einen sehr guten, wohlgemerkt, aber ich habe eben keine anderen Konsolen.
Mirko lässt mich zuerst duschen. Während er im Badezimmer ist, spiele ich ein bisschen Dark Alliance. Er hat nur Fantasyspiele.
Alter, hast du kalt geduscht?! Ich hatte ganz lange heißes Wasser!“
Du hast echt lang gebraucht, Warmduscher.“ Ich grinse.
Erleichtert stelle ich fest, dass er auch wieder gute Laune zu haben scheint.
Halt die Fresse.“
Ich pausiere das Spiel, weil er ein paarmal vor dem Fernseher hin- und hergeht, während er sich anzieht.
Machst du das, um mich abzulenken?“
Ja.“ Er zwinkert. „Was ist jetzt mit Tamara?“
Grunz. Sie will nichts von mir. Ich will nichts von ihr!“
Sicher?“
Ja! Bitte, nimm du sie, ich will sie nicht!“
Auf einmal fängt er an zu lachen.
Gut! Lass zocken.“

Mirko ist übrigens ein Zwergotter. Jeder mag ihn, er spielt viel und ist meistens lustig, und außerdem sieht er ganz gut aus. So wie im Zoo alle verzückt juchzen, wenn sie die Zwergotter beobachten, und „Wie süüß!“ quietschen, so finden fast alle Mädchen Mirkos Gesicht und seine joviale Art „süß“. Wie Mädchen halt jemanden finden.
Darum hatte ich auch erst keine Zweifel, dass es nicht lange dauern würde, bis er sich Tamara angelt. Aber das ist irgendwie nie passiert.
Als wir einmal bei ihm hocken und Skelette vermöbeln, fällt mir das auf, weil seine Minirockelfe ein wenig an Tamara erinnert.
Was ist jetzt mit Tamara?“
Hä?“
Du hast gar nichts bei ihr versucht.“
Hä?!“ Er pausiert das Spiel, gerade als mein Zauber alles plattmachen sollte, und sieht mich ziemlich schräg an.
Was soll ich bitte mit Tamara?!“
Em. Das was man so mit Frauen macht.“
Er stiert immer noch schief in meine Richtung. Nach einer seltsamen Pause sagt er in einem scharfen Tonfall:
Ich habe kein Interesse an Tamara.“
Aber warst du nicht eifersüchtig, als du dach-“ auf einmal kracht und blitzt es im Fernseher, als mein Zauber auf die Untoten niederdonnert. Ich zucke kurz zusammen und werde von nun an ignoriert.
Bis etwa eine halbe Stunde vergangen ist – wir können das gut, uns anschweigen – und ich meinen Magier durch eine Unachtsamkeit umbringe.
Lazarus!“
Entschuldigung!“
Ich heiße Ilja, nicht Lazarus, aber jemand fand es mal lustig, mich so zu nennen, weil mein Nachname mit La anfängt und mein Vorname russisch ist. Keine Sau kapiert den Witz, aber das ist egal. Mittlerweile heiße ich seit Jahren so, keiner muss wissen, wie dämlich der Grund dafür ist.
Lazarus!! Naaaiin!! Aaaah!“ Schreiend lässt Mirko seine Elfe zwischen den Untoten hindurchsprinten und meinem Charakter in den Abgrund hinterherspringen.
Ich lache fast so laut wie er schreit, als er seinen Controller wegwirft und mit ausgestreckten Armen seitlich zu mir herüberkippt.
Lazarus! Warte! Ich rette dich!!“
Haha, was tust du, wir haben nicht gespeichert!“
Ultimate Suicide!“
Ich fange ihn auf, bevor er auf mir landet und setze ihn wieder auf. Mit etwas ernsterem Gesicht räuspert er sich.
Ähem. Das war eine dumme Aktion.“
Ich weiß, entschuldige!“
Du hättest einfach unsichtbar bleiben sollen, dann wäre dir nichts passiert.“ Das sagt er leise und seufzend, indem er mich ernst anstarrt. Und indem er meine Haare hinter meine Ohren steckt!
Sieht gut aus. Lass sie weiter wachsen.“
Was zur Hölle?!
Er räuspert sich wieder und hebt seinen Controller auf. „Wir müssen die Gruft jetzt nochmal ganz durchspielen. Aber diesmal speichern wir.“
Klar. Dann kann deine Elfe ihrem geliebten Lazarus jederzeit in den Tod hinterherspringen.“
Genau,“ er grinst. Ich beobachte ihn jetzt ganz genau. Zumindest, bis er das Level neu gestartet hat.

Mirko hat manchmal genau dann schlechte Laune, wenn ich über die Katze rede. Seit ihrem Kratzer ist mir das aufgefallen, und jetzt achte ich eben darauf. Ich will sowas überhaupt nicht bemerken, darum spreche ich nicht mehr viel über sie, wenn ich mit ihm allein bin. Was übrigens nicht mehr so oft vorkommt. Ich will nicht, dass er in meinen Augen seltsam wird, weil er eigenartige Stimmungsschwankungen hat, darum bin ich in gewohnte Gewässer abgetaucht. Wir gammeln jetzt mehr mit unseren Freunden herum. Ich hasse es eigentlich, mit zu vielen Menschen auf einmal zu kommunizieren, aber das ist mir lieber, als mit einem einzelnen unberechenbaren Zwergotter umgehen zu müssen. Ehrlich, es ist viel einfacher. Nur mit ihm stundenlang irgendwo zu hocken, ohne zu reden, oder zu zweit nachts durch die Stadt zu wandern, ist zwar sehr viel cooler, aber so ist es einfacher.

Der Luchs Biermann hat uns eben verlassen, jetzt sitzen Mirko und ich allein im nächtlichen Park auf dem Skateplatz und verrauchen das Gras, das er uns dagelassen hat. Beim Skaten hatte er am Nachmittag mal wieder seine Raubtierreflexe zur Schau gestellt und war, geschmeidig wie immer, bei einem der Mädchen erfolgreich gewesen. Mir tut es ein bisschen für die Mädchen leid, die immer wieder auf ihn hereinfallen, aber sie müssen selbst wissen, was gut für sie ist. Solange mir der Kater vor lauter guter Laune seine restlichen Drogen überlässt, wenn er jemanden abschleppt, kann er ruhig so weitermachen.
Mirko. Hattest du mal ne Freundin?“
Er legt sich auf den Rücken und verschränkt einen Arm hinter dem Kopf. Nach einem langen, friedlichen Zug gibt er mir die Tüte.
Nein, mein Freund.“
Wieso nicht?“
Weil mich Frauen nicht interessieren.“
Ach. Okay.“ Ich muss mich am Kopf kratzen. Der Zwergotter interessiert sich nicht für Frauen, na sowas. „Hattest du dann mal einen Freund?“
Du meinst, habe ich mal einen Typen gevögelt? Nein.“
Wir müssen plötzlich lachen.
Wieso nicht? Oh scheiße.“
Er sieht mich an und lacht.
Hehe, sie sind alle irgendwie nicht schwul.“
Haha, das ist traurig.“
Haha, ja.“
Er ist auf einmal kein Zwergotter mehr, sondern ein Elefant, der melancholisch durch das Gitter seines Geheges in den Himmel blickt und nicht weiß, wo seine Artgenossen sind.
Ja. Das ist traurig,“ ich lege mich neben ihn und reiche ihm die Tüte.
So, und jetzt kommt mein erster Kuss mit einem Jungen. Ich bin hier der Initiator, und ich gebe zu, dass ich Mirko eigentlich nur antesten will.
Er ist die Beute, die ich auf dem Grund des Flusses herumrolle, um sie nur halb ertrunken in mein Futterlager zu stopfen.
Als ich ihn küsse, tut es mir sofort leid.
Lass das. Hör auf.“ Er schiebt mich mit den Händen an meinen Schultern weg. Dann setzen wir uns sofort auf. „Was sollte das?“
Weiß nicht.“
Und, hat’s dir Spaß gemacht?“
Ja. Entschuldige.“
Arschloch.“ Kichernd gibt er mir den restlichen glimmenden Stummel.





„Laarmann, Lorenz und Nassar!“
Lazarus, Sina und ich gehen auf die drei Leinwände zu, die vor einer Wand der Sporthalle aufgebaut sind. Um sie herum stehen diese silbernen Schirme, die die Fotografen für das Licht brauchen.
Lazarus geht natürlich so langsam wie möglich auf den am weitesten entfernten Schirm zu.
Die meisten haben sich eben noch im Umkleideraum die Haare gekämmt und gegelt, und ein paar der Mädchen, wie ich sehe, haben sich sogar umgezogen. Lazarus hat sich natürlich geweigert, Hand an sein sorgfältig zerzaustes, wertvolles Haupthaar zu legen, und gemeint, dass sein Foto wenigstens repräsentativ sein sollte, wenn es schon so dringend gemacht werden müsse.
Nicht, dass ich etwas dagegen hätte, ich mag seine wilden Haare, damit sieht er irre gut aus. Und ich finde es niedlich, wie er sich ziert. Habe ich das gerade gesagt? Hehe.
Jedenfalls findet unsere Lehrerin sein zögerliches Schleichen anscheinend nicht so sehenswert.
Mach hin, Ilja, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!“
Er wirft ihr einen genervten Blick zu und lässt sich mit den Händen in den Hosentaschen auf seinen Hocker fallen. Es blitzt einmal kurz, und sein Fotograf ruft sofort:
Jupp, das wars,“ und Lazarus steht lässig auf und geht gelangweilt zum Biermann hinüber, der auf einer dieser kleinen Bänke sitzt.
Auf einmal rufen mehrere Menschen gleichzeitig meinen Namen und der Fotograf vor mir winkt ungeduldig.
Haaalloo! Hier spielt die Musik! Sollte ich besser Chinesisch sprechen, damit du mich verstehst?“
Arschloch.

Als ich mich zwischen Biermann und Lazarus setze, grinsen die beiden mich blöde an.
Was hat dich denn so abgelenkt?“ fragt Biermann.
Ich sehe auf meine Knie, darum kann ich leider nicht Lazarus’ Gesichtsausdruck sehen, als er bemerkt:
Dein Fotograf ist so ein Wichser.“
Ich nicke. Es tut gut, das aus seinem Mund zu hören.

Auf dem Weg zur Bushaltestelle fragt er:
Sag, sprichst du eigentlich Thai – also was auch immer man in Thailand so spricht?“
Ich hab mich wohl verhört, also ziehe ich mir die Knöpfe aus den Ohren. Ich muss halt dauernd Gedudel im Hirn haben, sonst funktioniert es nicht richtig. Vielleicht habe ich ADS oder so, aber mit Musik läuft alles wie am Schnürchen.
Thailand?“ Ich grinse ihn überrascht an.
Er bleibt stehen und schaut vorsichtig mit schiefgelegtem Kopf, was echt hübsch aussieht.
Ja ...?“
Ich knuffe ihn in die Schulter.
Meine Mutter kommt aus Taiwan, Mann! Taiwan!“
Jetzt sieht er furchtbar erschrocken aus.
Oh! Entschuldige, das tut mir leid!“ Er legt eine Hand auf meine Schulter und entschuldigt sich noch ein paarmal. Und er meint das wirklich ernst, denn ich weiß, dass er überhaupt nicht schauspielern oder lügen kann, und das macht das Ganze doppelt witzig. Es tut ihm wirklich leid, sich geirrt zu haben, aber weil ich mich bloß darüber kaputtlache, blickt er etwas betreten drein.
Wir haben früher viel Taiwanisch gesprochen, aber damit meine Mum richtig Deutsch lernen konnte, wollte sie irgendwann, dass wir beide uns nur noch auf Deutsch unterhalten.“
Er nickt.
Ich kann mich ganz gut verständigen, aber ich kanns leider nicht gut schreiben.“
Trotzdem cool.“
Ich wische meine Kopfhörer an meinem T-shirt ab und gebe sie ihm.
Hier. Taiwan.“
Lazarus guckt ganz erwartungsvoll. Jetzt bekommt er S.H.E zu hören - bonbonbuntester, zuckersüßester Girlpop aus Taiwan.
Keine Ahnung, ob ihm das gefällt, er grinst nur schelmisch. Er hat leider keine Gelegenheit, viel mehr zu tun, weil sein Bus gerade kommt.
Der Bus hält, er legt mir die Kabel über die Schulter und wir verabschieden uns per Handschlag.
Skatepark?“ frage ich.
Er nickt, „Bis nachher, Sportskanone.“
Haha. Witzig!“ sage ich unlustig, als er grinsend einsteigt.
Lazarus skatet, spielt Fußball, Basketball, ist einer der besseren im Sportunterricht (während ich die absolute Niete bin), und geht sogar zum Spaß joggen! Ich kann mittlerweile auch ein paar Skateboardtricks, aber nichts Wildes. Das ist einfach nicht mein Fall. Meistens komme ich erst später in den Park, wenn es dunkel wird und die meisten Leute entweder nach Hause gehen oder höchstens noch zum Chillen bleiben.

Jetzt fragt man sich natürlich, was ich überhaupt da mache.
Bis vor Kurzem waren Ilja und ich fast immer bei mir und haben irgendwas gespielt.
Wie es gekommen ist, dass wir jetzt dauernd in diesem bepissten Park rumhängen, ist sehr einfach zu rekonstruieren.
Ilja hat was gemerkt, als ich einmal beim Spielen zu sehr auf Tuchfühlung gegangen bin, und will nicht mehr mit mir allein sein. Was ich wirklich verstehen kann. Es gefällt mir nicht, aber ich kanns nachvollziehen. Es klingt jedenfalls einleuchtend, dachte ich.
Aber dieser Kuss letztes Wochenende hat mich richtig aus der Bahn geworfen.
Ich weiß echt nicht mehr, was ich von ihm zu halten habe.

Rechtzeitig zu Sonnenuntergang komme ich auf dem Platz an. Ich hatte diesmal keine Lust, mein Alibiskateboard mitzubringen. Wäre sowieso albern gewesen. Ein paar Jungs, die den Park verlassen, kommen mir auf dem Weg entgegen.
Lazarus, Biermann und zwei andere sitzen oben auf einer der beiden Halfpipes. Sie sehen mich, aber ich weiß wegen meines mp3-Players nicht, ob sie mich verbal grüßen. Zur Sicherheit winke ich kurz und ziehe meine Stöpsel aus den Ohren, sobald ich bei ihnen bin.
- sagt der irgendwas von wegen ‚Soll ich Chinesisch sprechen, damit du mich verstehst?!’“ Biermann erzählt offensichtlich vom Fototag.
Echt? Eure Lehrerin hat dazu gar nichts gesagt?“ fragt einer der anderen Typen.
Wozu auch? Sie weiß anscheinend, dass Mandarin in Taiwan Amtssprache ist!“ Ich zeige ihnen kurz ein falsches Grinsen und hoffe, dass es lustlos ausgesehen hat.
Wa-?“ sagt Ilja mit dem Kinn auf der Kante seines Boards. Er runzelt verständnislos die Stirn. Er sieht süß aus, wenn er begriffsstutzig ist. Aber ich hüte mich davor, ihn anzustarren.
Du hast was von Taiwanisch gesagt!“ beschwert er sich. Er klingt müde, und sieht auch ein wenig so aus.
Willst du jetzt einen Vortrag über Taiwans Landessprachen hören?“
Er schüttelt langsam den Kopf. „Also wird da Taiwanisch und Chinesisch gesprochen.“
Korrekt.“
... Dann hat er dich ja gar nicht beleidigt,“ sagt Biermann entsetzt und glotzt mich an. Ilja und einer der anderen beiden schlagen ihn gleichzeitig auf den Hinterkopf. Wir lachen ihn noch ein bisschen aus, bis Ilja auf einmal aufsteht.
Er gähnt demonstrativ, dann sieht er zu mir herunter.
Entschuldige. Ich weiß, du bist gerade erst gekommen, aber willst du vielleicht mitkommen?“
Wohin?“
Naja, nach Hause.“ Er zuckt die Schultern. Ich sehe zu den anderen. Sie sehen uns zu. Beobachten die uns? Sie sind zu stumm für meinen Geschmack.
Äh, klar.“

Wir gehen stumm nebeneinander durch den dunklen Park. Ohne große Ankündigung macht er ein paar unnötige Umwege.
Kann es sein, dass die drei uns gerade etwas seltsam angesehen haben, als du mich gefragt hast, ob ich mit dir mitkomme?“
Ach was.“ Er sieht auf den Boden. Wo es nichts zu sehen gibt, weil es eh finster ist. Dann bleibt er stehen.
Ähm. Ich weiß nicht, womit ich anfangen soll.“
Ich zucke die Schultern, was er vermutlich nicht sehen kann. Er ist drauf und dran, mir irgendwas zu beichten, und ich wills nicht hören. Wenn er in meine Richtung sähe, könnte er hier im Dunkeln wahrscheinlich auch nicht sehen, was für eine Scheißangst ich gerade habe.
Er lässt sein Skateboard fallen und setzt einen Fuß drauf. Unter dem leisen Knirschen der kleinen Steine beginnt er, es langsam hin- und herzurollen, und steckt seine Hände in die Tasche seines Sweatshirts.
Ich habe ihnen erzählt, dass ich dich geküsst habe. Ich wollte sowas wie einen Rat, schätze ich, aber ich hab keinen bekommen, natürlich. Hehe.“
Lach nicht, du Arsch. Was fällt dir ein, sowas rumzuposaunen?“
He, die drei sind cool, sonst hätte ichs für mich behalten. Außerdem habe ich gesagt, dass du anscheinend nichts von mir willst.“
Ich glaube, wir sind beide scheißnervös. Ich fiste meine Hosentaschen und warte.
Ich dachte zuerst, aber dann. Du warst so, ich weiß nicht, ähm, wie soll ich sagen...“ er macht ein frustriertes Geräusch, „hmrach. Vielleicht habe ich dich falsch verstanden.“
Er spricht nicht weiter.
Und dich habe ich jetzt gerade überhaupt nicht verstanden.“
Er atmet aus und das klingt wieder frustriert. Ich könnte jetzt friedlich vor der Glotze sitzen, mich nicht hiermit auseinandersetzen und alles wäre halbwegs in Ordnung.
Zuerst habe ich gedacht, dass du was von mir willst, aber letzte Woche hast du mich weggeschoben und wolltest nicht, dass ich dich küsse, also hatte ich dich vorher wohl falsch verstanden. Das war wohl zu aufdringlich, entschuldige. Kannst du darüber hinwegsehen?“
Tse. Das war nicht schlimm. Du kannst mich nur nicht so überrumpeln.“
Also ... was heißt das?“ Er hat aufgehört, das Board herumzuschieben.
Das heißt, dass es okay war. Und dass du mich aber nicht so überfallen sollst.“ Jetzt sieht er in meine Richtung, und ich glaube, dass er lächelt, aber genau kann ich sein Gesicht nicht sehen.
Hätte ich dich erst darum bitten sollen?“
Ich grinse zurück.
Das wäre schon schön gewesen. Du kannst mich als mein bester Freund nicht einfach so, aus heiterem Himmel, küssen und erwarten, dass ich überglücklich bin und dir seufzend in die Arme falle. ... Was ich eigentlich schon fast getan hätte.“
Also...“
Also was?“
Ich weiß nicht. Was jetzt?“
Okay, ich bin zwar derbe in ihn verschossen, aber muss er so langsam sein? Ich habe ihm gerade praktisch alles gesagt, und er steht bloß dumm da und glotzt auf seinen Fuß!
Jetzt kommt der Teil, in dem du etwas sagst. Irgendwas, mit dem ich was anfangen kann.“
Okay. Darf ich dich nochmal küssen?“



[Ende]


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